Seit dem Sommer 2014 zieht im Altarraum der Dorfkirche Stolpe eine ungewöhnliche moderne Metallplastik die Blicke auf sich. Wer näher tritt, liest auf zwei größeren Tafeln die Bestimmung dieses Kunstwerkes. Auf vielen kleinen Tafeln erinnern Namen und Daten an die Taufe, die die Genannten empfangen haben. In der Kirchengemeinde sind Stolpe und Hohen Neuendorf verbunden. Doch auch die, die von auswärts kommend hier getauft werden, können ihre Namen eintragen lassen. Aber bei den einen wie bei der anderen ist das eine freiwillige Entscheidung. Niemand wird dazu genötigt.
Schon in frühchristliche Zeit wurde die Zahl Acht in eine symbolische Beziehung zur Taufe gesetzt. Taufanlagen und Taufkapellen haben eine achteckige Gestalt. Wie die Zahl Sieben am Anfang der Bibel mit der Erschaffung alles Irdischen verknüpft ist, so galt deren Überschreitung in der Acht als ein Hinweis auf die Verheißung ewigen Lebens bei Gott, eines Lebens, zu dem die Taufe ein Anfang ist. Das Stolper Taufgedenken nimmt diese Symbolik auf. An den acht senkrechten Streben sind Querholme befestigt, an denen symmetrisch angeordnet zweimal 8 x 8 Täfelchen hängen. Rechnet man die beiden Tafeln mit den erläuternden Inschriften ab und bleibt es dabei, dass in jedem Jahr nur eine der kleinen Tafeln mit Namen beschriftet wird, dauert es 126 Jahre, bis man um fortzufahren die ersten Tafeln abnehmen und durch neue ersetzen muss. Damit hat das Taufgedenken einen weit schwingenden, die eigenen Lebenszeit übersteigenden Rhythmus. Die Erinnerung an die Taufe kann das ganze Leben begleiten.
Die Stolper Dorfkirche wurde 1972 grundlegend renoviert. In den folgenden Jahrzehnten kamen Stück für Stück sehr schöne alte Elemente hinzu: der Taufengel, das Relief mit den beiden Engeln an der Südwand, der Kronleuchter und die Öffnung der zwischenzeitlich zugesetzten Fenster der Patronatsloge hin zur Kirche. Mit guten Gründen hätte man die Ausgestaltung des harmonischen, in der Formensprache des 18. und des frühen 19. Jahrhunderts lebendigen Raumes für abgeschlossen erklären können. Anders empfand es am Ende ihrer Dienstzeit die Pastorin Renate Vogel. Sie wollte, dass die Besucher in der Kirche auch einen Hinweis auf die Gegenwart und die Zukunft der christlichen Gemeinde finden. Das würde ein Denkmal leisten, das die Namen der Neugetauften über lange Zeit hinweg gegenwärtig hält. Die Wand unter dem schmalen hochliegenden Fenster hinter der Kanzel gegenüber vom Taufengel bot sich dafür an. Es war auch klar, dass damit die Kunst des 21. Jahrhunderts in die Kirche Einzug halten würde.
Nach dem Tod von Renate Vogel hat ihre Familie die Idee als ein Vermächtnis übernommen. Es war ein Glücksfall, dass sie in dem Potsdamer Bildhauer und Metallgestalter Christian Roehl den Künstler fand, der den Anregungen die überzeugende Gestalt gegeben hat. Das Denkmal scheut den Kontrast zu den anderen Elementen des Kirchenraumes nicht. "Die starke Gegenständlichkeit des Engels verbietet jede weitere plastische Gestaltung", schrieb Christian Roehl nach dem ersten Besuch in Stolpe. So entwarf er das Denkmal aus Zahlenverhältnissen und einfachen geometrische Formen. Stahl als das einzige Material läßt es wuchtig auf der Grundplatte ruhen. Dunkel und monochrom das Äußere. Alles hebt sich zunächst schroff ab von dem geschnitzten Engel und der Holzarchitektur des Altars und deren heller Farbigkeit. Aber da sind ebenso viele gegenläufige Elemente. Es ist handgeschmiedeter Stahl, und alle Oberflächen zeigen eine feine lebendige Plastizität. Die senkrechten Streben verjüngen sich nach oben und sind von der Last der Täfelchen leicht nach außen gebeugt. Die Befestigung der Täfelchen erlaubt eine spielerische Drehung wie bei einem Mobile. Nie stehen sie in einer Linie. Der Schutzanstrich des Stahls überrascht, wenn Licht darauf fällt, mit einem vielfältigen kleinen Funkeln. Und wer den Innenraum der Kirche als Ganzen in den Blick nimmt, erkennt, wie feinfühlig das Denkmal in die Höhenlinien und Proportionen eingepasst ist. Das alles ist in dem Entwurf von Christian Roehl fixiert. Als die nötigen Genehmigungen einzuholen waren, hat er auch einige fertig geschmiedete Stücke vorgelegt.
Dann wurde die Übergabe an die Kirchengemeinde für ein Datum im Mai 2013 verabredet, und der Bildhauer machte sich an den letzten Teil der Arbeit. Da ereilte ihn am 4. April ein Herzinfarkt, an dessen Folgen er verstarb. Trotz aller Bestürzung und Trauer haben damals Alice Bahra, seine Frau, und Rüdiger Roehl, sein Bruder, Metallbildhauer wie er, versprochen, das Nötige zu tun, damit das letzte größere Projekt aus der Stahnsdorfer Schmiede kein Fragment bleiben müsse. Die Intentionen des Entwurfs wurden treu und in handwerklicher und künstlerischer Meisterschaft umgesetzt. Ein Jahr später konnte das Denkmal in der Stolper Kirche aufgestellt werden.
Seitdem hat die offene Form viele Deutungen erfahren. Ein Baum, der seine Früchte dem Licht entgegenträgt, sagen die einen. Andere sehen die Kontur wie einen lang gestreckten Rhombus und fühlen sich an die Epitaphe erinnert, wie sie in vielen Kirchen hängen. Aber dann wäre das ein Epitaph zuerst für die Lebenden, nicht für die schon Dahingegangenen. Wieder andere zeigen sich fasziniert von der Stufen- folge mit der Richtung nach oben und sehen darin eine Himmelsleiter oder überhaupt einen Aufstieg zu höherer und besserer Erkenntnis.
Vor allem aber ist das Kunstwerk eine überaus reiche und klare Interpretation der christlichen Taufe. Das Datum der Taufe bei jedem Namen spricht von einem Anfang in der Zeit. Aber indem die Namen zwar nicht endlos, aber sehr bewusst über jede denkbare Lebenszeit hinaus gegenwärtig gehalten werden, wird die lange Dauer zum Hinweis auf Gottes Zeit, auf die Ewigkeit. In die Ewigkeit mündet irdisches Leben, aber diese umschließt es auch schon. "Meine Zeit steht in Deinen Händen", heißt es in der Bibel. Taufe ist die Berufung zum Reiche Gottes. Namen und Daten sind gut lesbar, aber sie wirken auf der Vorder- und Rückseite einer Jahrestafel nicht allzu groß. Noch mehr scheinen sie aufzugehen in den immer zahlreicher werdenden Namen des Denkmals. Besser läßt sich gar nicht verdeutlichen, dass die Taufe in die Gemeinde Jesu Christi eingliedert.
Vielleicht mischen sich einmal Namen von hier katholisch oder orthodox Getauften hinein, was gut denkbar ist, da die Taufe unter den Konfessionen wechselseitig anerkannt ist und in kirchlichen Räumen gern Gastfreundschaft gewährt wird. In jedem Falle ist der Horizont der Taufe die ganze Christenheit und nur vorläufig und hilfsweise eine bestimmte Konfession. Deshalb hält die Taufe den Wunsch nach der Einheit der Gemeinde Christi wach. Schließlich ist dieses Taufgedenken selbst ein Teil dessen, was zur Taufe und zum Getauftsein gehört: die lebendige und ermutigende Erinnerung an das, was einmal geschieht und immer neu angeeignet sein will. Zu solcher Ermutigung kann der nachdenkliche Blick auf das Datum der eigenen Taufe werden. Aber es muss nicht der eigene Name sein. Alle, die eine Taufe miterleben, von ihr hören oder - wie auf diesem Denkmal - von ihr lesen, können davon angerührt werden.
Traugott Vogel Ev. Kirchengemeinde Hohen Neuendorf-Stolpe Berliner Straße 40 16540 Hohen Neuendorf